Doof wird mensch nicht geboren...
(Der ganze Artikel, Quelle: Bremervörder Zeitung, 19.08.2000)
...doof wird mensch gemacht!
Wir schreiben das Jahr 2000. Das ganze Universum mit seinen unzähligen Galaxien ist in Bewegung und in Veränderung begriffen. Doch, halt, nicht das ganze Universum! Blicken wir auf den kleinen Planeten Erde: Ein kleines Schulkollegium im Oldenburger Land wehrt sich standhaft, die Fahne der guten, alten Tradition, der umfassenden professionellen Erfahrung und der bewährten Vergangenheit ihrer Schule weht entschlossen über den Köpfen. Im Schutz der Roben des Oldenburger Verwaltungsgerichtes steht es geschlossen gegen eine fremde Gefahr!
Diese hat Gestalt angenommen. Sie manifestiert sich in der Gestalt zweier Kinder. Keine normalen Kinder, nein, oh Schreck, oh Graus, sie sind behindert!
Die Erziehungsberechtigten dieser Kinder haben versucht an den Grundfesten der schulischen Bildungsanstalt zu rütteln! Sie haben damit die Bildung unzähliger anderer Heranwachsenden gefährdet und beinahe, fast beinahe zum Scheitern gebracht! Nicht auszudenken, wenn die geplante, logistisch organisierte ökonomische Verwertbarkeit dutzender von Kindern im realexistierenden Globalisierungsprozess null und nichtig geworden wäre!
Zum Glück wurde ihnen Einhalt geboten durch die Wächter der Roben. Das Unheil scheint abgewendet...
Im Ernst, da haben zwei Kinder vier Jahre in der Grundschule das gemeinsame Lernen und Arbeiten mit anderen Kindern erlebt, haben sich gemeinsam mit den MitschülerInnen einen Lern- und Lebensraum erschlossen, haben soziale Beziehungen entwickelt, Freundschaften geschlossen und Erfolg gehabt, sonst hätten die Eltern dieser beiden Kinder nicht den Schritt vor Gericht gewagt, oder?! Und nun soll Schicht im Schach sein?!
Sogar die vorgesetzte Bezirksregierung hat den eigentlichen Sachverhalt begriffen, hat die notwendige Absicherung der materiellen, personellen und finanziellen Rahmenbedingungen für den Schulwechsel zugesichert. Aber nein, gegen das Diktat der Erfahrung vor Ort hatte auch dies keine Aussicht auf Akzeptanz, geschweige denn auf Erfolg.
Die Befürchtung (...), der Mehraufwand für die besondere pädagogische Betreuung der Behinderten könne zu Lasten der anderen Schüler gehen ist einzig und allein das Eingeständnis der eigenen Angst, Hilflosigkeit und Bewegungsunfähigkeit, liebes Kollegium!
Integration IST machbar, Herr und Frau Nachbar, auch an Ihrer Schule!
Aussonderung, auch angeblich gut gemeint, an eine Sonderschule (!), ist ein Akt der Gewalt an den betroffenen Kindern und ihren Familien! Und dies Schicksal trifft nicht nur diese beiden Kinder, sondern be-trifft Jahr für Jahr unzählige Kinder in diesem Land. Kinder, die anders, unbequem oder in ihrem Verhalten unverständlich sind! Wer nicht passt, stört und zusätzliche Arbeit macht, fliegt raus. Analog zur Bundesliga findet der Bildungswettbewerb in unterschiedlichen Klassen statt, wer Pech hat, steigt ab. Und wer am Ende ganz viel Pech hat, spielt bzw. lernt dann nur noch im pädagogischen Hinterhof. Diese Gesellschaft braucht keine Sonder-Schulen, sondern eine Schule für ALLE Kinder! Das notwendige Wissen dazu ist vorhanden, allein es fehlt am bildungspolitischen Willen.
Liebes Gericht, liebes Kollegium, ihr habt doch sicherlich einen Internetzugang zur Verfügung. Nehmt euch Zeit, tippt in eure Lieblingssuchmaschine den Begriff "Integration" ein und bildet euch weiter... - für die unter euch, die keine Zeit haben, surft zu http://bidok.uibk.ac.at/, "da werden sie geholfen!" (altes deutsches Sprichwort) Und sage mir hinterher keine/r mehr, er oder sie habe es nicht besser gewusst...
Liebes Gericht, liebes Kollegium, mensch verzeihe euch eure Angst und Unkenntnis. Eure Entscheidung ist trotzdem nicht mehr zeitgemäß...
...armes Oldenburger Land, armes Deutschland!
Behindert wird mensch nicht geboren, behindert wird mensch gemacht (wie mensch hier sieht auch durch Schulen, Gerichte oder was-auch-immer)...
...tja, das Goldene Schaf # 2 müsst Ihr Euch leider teilen, liebes Verwaltungsgericht Oldenburg und liebes (unbekanntes) Schulkollegium. Herzlichen Glückwunsch!
(C) M. Kühn, 08/2000
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