Ich war als Fachlehrer neu in die dritte Klasse gekommen. Noch kannte ich die einzelnen
Kinder nicht mit Namen, da wurde ich schon mit den ersten Konflikten konfrontiert. Es hatte während der Pause
eine heftige Auseinandersetzung zwischen einigen Jungen gegeben. Innerhalb des
Klärungsgespräches machte ein Junge mit Formulierungen auf sich aufmerksam. Ich nenne ihn
Robert. "Ich kriege häufig Wutanfälle", sagte er, "dann schlage ich zu. Ich liebe Schläge."
Die beteiligten Jungen sagen noch: "Das hat er schon im ersten Schuljahr gemacht." Das wollte
Robert nicht mehr hören. Er hielt sich die Ohren zu.
Am nächsten Tag gingen die Auseinandersetzungen weiter.
Er stieß einen Mitschüler von den Stelzen.
Seine Klassenlehrerin erzählte mir, Roberts Eltern hätten sich getrennt. Es habe große familiäre
Konflikte gegeben. Der Vater habe so massiv Gewalt gegenüber Roberts Mutter ausgeübt, dass
diese mit Ihrem Sohn ins Frauenhaus flüchten musste. Robert setze überwiegend Gewalt ein, um
seine Wünsche und Vorstellungen durchzusetzen.
Zu meinem großen Erstaunen kommt Robert am nächsten Tag zu mir, legte mir Mathematikaufgaben
vor, die weit über dem Stoff dieser Klasse liegen. Er bittet mich, diese Aufgaben zu
kontrollieren. Robert sucht also meine Anerkennung und Bestätigung auf der Sachebene.
Weitere Beobachtungen ergeben, dass Robert aus der Klassengemeinschaft ausgeschlossen ist. Als
ich dies thematisiere sucht er zunächst die Situation zu überspielen. Er habe die anderen
überhaupt nicht nötig, sagt er lauthals. Er habe seine eigenen Freunde, brauche niemanden aus
der Klasse. Dann weint er.
Seine reale und emotionale Situation ist nun sichtbar und erlebbar.
Robert berichtet, dass er besonders gern Roboter-Bilder male. Seine Roboter-
Zeichnungen werden Anknüpfungspunkte für unsere Kommunikation. Hier öffnete er ein Fenster. Ich
bekomme Einblick in seine Erlebens- und Handlungsmuster.
Er erzählt: "Dieser hier wird durch Sonnenenergie gespeist und stellt Raketen her. Es ist ein
Schutzroboter."
"Dieser sammelt Sonnenenergie und macht um Menschen eine Rüstung. Und somit wird er ein
Polizist. Er achtet auf die, die was falsch machen."
"Hier oben im Roboter ist der Boss. Der eine zeichnet auf, was der Boss denkt. Links ist ein
Kampfgefährt. Rechts hat der Roboter vier Hände. Oben ist eine Atombombe. Wenn einer den
Roboter klauen will, fällt die Bombe. Die Energie geht in den Kopf. Der kann alle abschießen.
Batsch! Tot! Der eine saugt Gehirn ab. Sein Herz ist eine Bombe, mit der er die ganze Welt
sprengen kann. Aber im Grunde ist er ein Mensch, hat Gefühle wie ein Mensch, ist halb Mensch
und halb Roboter. Er hat Liebe, Wissen und kann sich erinnern. Er hat Liebe!"
Ich: "Du hast gesagt, dass Roboter auch Gefühle haben können."
Robert: "Ja, Halbroboter, die haben Gefühle wie Liebe, die können sich auch erinnern."
Ich: "Ein Roboter auf deinem Bild hat eine Atombombe in seinem Herzen. Das finde ich..."
Robert: "....brutal, das ist sehr brutal, aber noch brutaler wäre es, wenn er die Macht hätte,
einem andern Menschen die Gefühle zu rauben. Das wäre sehr brutal."
Etwa zwei Monate später legt mir Robert wieder eine seiner Roboter Zeichnungen vor. Am Bug ist
eine Figur zu sehen, die eine Zeitbombe in das Meer wirft. Sie zielt auf ein Monster. Dieses
Monster wird auch von zwei Unterwasserfahrzeugen mit Giftbomben angegriffen. Die Figur auf dem
Schiff bezeichnet er als Roboter mit menschlichen Zügen. Ich: "Ich bin gespannt, wann du einen Menschen malst."
Robert: "Sofort."
Zu sehen ist ein kampfbereiter Roboter. In der einen Hand hält er eine Zeitbombe, in der
anderen einen Laser-Strahl. Im Bauch des Roboters ist eine Figur mit Augen, Mund, Händen und
Beinen zu erkennen. "Das Männchen ist der Roboter, der Roboter ist das Männchen", sagt Robert.
Es gibt eine unlösbare Verbindung. Die Figur braucht die schützende Umhüllung und steuert
diese gleichzeitig.
Aus der ersten Phase seiner Roboterzeichnungen stammt ein Roboter, der total zu ist. Dort ist
auch keine Figur zu erkennen. Dieser Roboter ist eine reine Kampfmaschine. Der neue Robotertyp
hat eine integrierte Figur. Hier ist ein Fortschritt zu erkennen. Innerhalb der Verpanzerung
erscheint eine Figur, die den Roboter steuert, aber noch nicht aus ihm heraustreten kann. Ich: "Ich bin gespannt, wann das Männchen heraustreten kann."
Robert: "Das kann er. Hier ist eine Stelle, da kann er heraus." (Er zeigt auf eine Stelle.) Ich: "Kann er wirklich?"
Robert: "Ja, er hat noch in dieser Hand eine Waffe und auch in dieser."
Ich: "Also, er kann noch nicht ohne Waffe sein. Ich bin gespannt, wann die Männchen, die deine
Roboter steuern, aus ihnen hervortreten."
Robert: "Jederzeit."
Einige Zeit später bitte ich ihn, ein Bild von seiner Familie zu malen.
Familienbild: "Das ist meine Mutter, mein Bruder, mein hässlicher Vater, meine Oma. Und das
bin ich. Ich habe mich deshalb so klein gemalt, weil ich nicht mehr hin passte."
Auswertung der Fall-
besprechung
Interpretation von Roberts Verhalten:
Wenn wir im Rahmen unserer schulischen Arbeit mit dazu beitragen wollen, dass Kinder eine
emotionale Sicherheit entwickeln können, dann ist es von entscheidender Bedeutung, ob wir
auch in kritischen Situationen unseren Schülern zugewandt bleiben. Wir müssen den Versuch
machen, die Verhaltensweisen eines Kindes zu verstehen, d.h., wir müssen uns bemühen, die
Bedeutsamkeit, die den Verhaltensweisen zugrunde liegt, zu interpretieren. Vor diesem
Verstehenshintergrund sollten wir dann zu angemessenen Handlungen kommen. Diese Vorgehen will
ich angesichts des vorgestellten Beispiels beschreiben. Dabei nehme ich weitere Beobachtungen
hinzu, die außerhalb der beschriebenen Szenen festgehalten wurden.
Robert zeigt oft ein aggressives Verhalten, manchmal zeigt er auch Aggressionen gegen sich
selbst.
Er hat ein schwaches Selbstbild. Dies zeigt sich an Äußerungen wie: "Ich bin so geboren."
"Ich bin schlecht."
Er zeigt ein desorganisiertes Verhalten. Dies wird daran sichtbar, dass er oft keine
Hausaufgaben macht, das erforderliche Material nicht hat, Leistung verweigert und ständig
Tabubrüche begeht, wenn er z.B. sagt: "Julian fickt mir Tabea." "Ich schlag dir das Gehirn
aus dem Kopf."
Bindungsverhalten: Robert sucht eine Beziehung zu seinem Lehrer, wenn er ihm
Mathematikaufgaben mit der Bitte um Kontrolle vorlegt, Aufgaben, die weit über dem Stoff der
Klasse liegen. Sein Wunsch mit den andern Kindern zu spielen, deutet ebenfalls auf
Beziehungssuche hin. Gleichzeitig vermeidet und erschwert er Beziehungen, wenn er sich
distanzlos verhält und Tabubrüche begeht.
Schutzverhalten: Seine Fantasien, die u.a. in seinen Roboterzeichnungen sichtbar werden,
verweisen darauf, dass er sich auf diese Weise einen Schutz aufbaut, indem er sich in
Größenphantasien steigert.
Pädagogisches Handeln: Ich zeige Interesse an Roberts Aktivitäten, führe gelegentlich
Gespräch mit ihm, versuche seine Verhaltensweisen zu verstehen und gebe unterschiedliche
Anregungen.
Robert lernte es, immer besser mit seinen Konflikten umzugehen. In der
Folge wurde er auch von seinen Mitschülern akzeptiert. Neben den Konfliktgesprächen war es vor
allem das Fußballspiel, das eine Integration ermöglichte. Gerade diese Art der Zuwendung führt
über den Aufbau einer tragenden Beziehung zu einer emotionalen Sicherheit.
Wenn bei der Konfliktklärung auch die emotionalen Anteile Beachtung
finden, dann haben die betroffenen Kinder nach erfolgreicher Klärung ein Gefühl von
Erleichterung. Die Hilfe, die sie erfahren haben, führt zu Dankbarkeit gegenüber der helfenden
Person. Dankbarkeit ist die Grundlage für Vertrauen. Dieses ist wiederum elementarer
Bestandteil einer emotional tragenden Beziehung.
Natürlich gab es immer wieder Einbrüche, z.B. gab es Phasen, in denen er
seine Hausaufgaben nicht mehr machte. Vater und Mutter sahen keine Möglichkeit, sich um eine
Therapie für ihren Sohn zu kümmern. Wir hoffen, dass es uns in diesem konkreten Fall gelungen
ist, eine emotional tragende Beziehung zu dem Jungen aufzubauen - auch mit seiner Hilfe, und
dass wir durch unsere Arbeit eine Grundlage gelegt haben, die ihn auch in kritischen
Situationen seines weiteren Lebens trägt. Alle Erfahrungen, die ein Mensch macht, sagt der
Göttinger Hirnforscher Prof. Hüther, bilden sich in neuronalen Netzwerken aus. Sie gehen nicht
verloren. Wichtig ist, dass sie durch viele erlebnisreiche positive Erfahrungen gestärkt
werden. Ich gehe davon aus, dass ein Beziehungsangebot, das Schülern mit einem unsicheren
Selbstwertgefühl von einer Lehrkraft oder von Mitschülern angeboten wird, wesentlich dazu
beiträgt, dass Gewalt vermieden oder doch stark eingeschränkt wird.