E-Mail
|
Stationäre Jugendhilfe als soziale Dienstleistung oder »Der Haufen Bretter bestellt sich selbst
beim Tischler zum Schrank.«
(Überarbeitete Fassung eines Arbeitsgruppenreferates zur Fachtagung "Jugendhilfe als soziale Dienstleistung -
Chancen und Probleme praktischen Handelns" vom 16.-17. November 2000 in Berlin)
Einleitung
Zugegeben, mir ist nicht ganz wohl beim Motto dieser Tagung. Wie im Eingangsreferat von Johannes Münder
dargestellt, ist der Begriff der Dienstleistung der Ökonomie entlehnt. Dienstleistung ist somit das
Ergebnis immaterieller Produktion (Münder, 2000). Keine Rohstoff-, keine Wertstoff-, keine Holz-, Metall-
oder Sonst-was-verarbeitende Produktion, nein, um die Arbeit von Menschen mit und an Menschen geht es bei diesem
Thema, nicht wahr?!
Seit einigen Jahren gibt es einen m.E. verhängnisvollen Trend, mit Begriffen und Methoden, die aus dem
wirtschaftlichen Spektrum stammen, soziale Arbeit, wo und wie auch immer, umzudefinieren. Kann dies gelingen?
In der Buchankündigung
einer Neuerscheinung von Prof. Rainer Berger (Uni Dortmund) wird der Hintergrund dieses Themas treffend
benannt: "Der Sozialstaat, die institutionelle Befriedung des Konflikts zwischen Kapital und Arbeit in
der Industriegesellschaft, bedarf der Anpassung an die Bedingungen der Globalisierung."
Über 20 Jahre ist die Kritik von Illich und McKnight an der Ökonomisierung von HelferInnensystemen alt:
"Der Riesenkomplex von Bildung und Erziehung, von Gesundheits- und Sozialfürsorge stellt sich als umfassende
'Dienstleistungsökonomie' dar, in der es wie selbstverständlich Produzenten und Konsumenten gibt. Dieses
System kann jedoch nur aufrechterhalten werden, wenn es die Bevölkerung an seine Produktivität und seinen
Sinn glauben läßt." (zit. in: M. Kühn, W. Düßmann, 1994)
Und John McKnight spitzt diesen Sachverhalt zu, wenn er davon redet, daß "die politisch-ökonomischen
Aspekte aller Dienstleistungen hinter der Maske der Liebe verborgen" werden, (...) die Maske der
Dienstleistung ist kein falsches Gesicht. Die Macht der Dienstleistungsideologie wird gerade dadurch
deutlich, daß die meisten Dienstleistenden diese Maske nicht von ihrem eigenen Gesicht unterscheiden
können. (...) Der moderne Dienstleistende heuchelt nicht, er glaubt an seine Fürsorge und an seine Liebe
(...). Die Maske ist das Gesicht. (...) Nehmen wir ihnen jedoch die Maske der Liebe einfach fort, dann
blicken wir in das Gesicht von Dienstleistenden, die auf ein Einkommen angewiesen sind, wie ihre Wirtschaft,
die ohne Wachstum verdorren würde. (...) Der Kunde ist hier nicht nur Verbraucher, sondern auch
unverzichtbarer Rohstoff des Dienstleistungssystems." (zit. in: ebd.)
Ist das Motto dieser Tagung also der Versuch, ein zerbrochenes Rad neu zu erfinden?
Muss sich dieser Versuch der Neudefinition in Zukunft nicht auch bei uns der ökonomisch-theoretischen
Kritik stellen? Gut, dies ist hier nicht das Thema, obwohl es als Stachel im Bewußtsein hängen bleiben
sollte. Wem dient also diese Neudefinition, wozu werden die Grundlagen sozialer Arbeit und öffentlicher
Hilfe, wie wir sie in unseren vielfältigen Maßnahmen anbieten, umgedeutet (reframed!)? Ist es
Legitimationsdruck, ist es die Befürchtung der Un-Wissenschaftlichkeit? Und von wem und für wen sind
diese Ansätze gedacht? Ist die Ökonomie wirklich die neue Leitkultur der sozialen Arbeit? Oder wie
es ein Kollege formuliert hat: "Wie sich reformieren, ohne die Menschen, die ohnehin 'Modernisierungsverlierer'
sind, nochmals verlieren zu lassen?"
(M. Köhler)
"Die Soziale Arbeit kümmert sich reaktiv um Problemlagen, die woanders verursacht wurden (z.B. im Bereich
der Wirtschaft)" oder anderen gesellschaftlich-politischen Ursachen, schreibt H.-J. Benedict (in: CuS, 1993). Deshalb fordert er: "Wenn Sozialarbeit angesiedelt ist
zwischen den Institutionen der Sozialpolitik einerseits und den Selbsthilfegruppen und Bürgerbewegungen
andererseits, so muß sie angesichts des Skandals der Verelendung großer Bevölkerungsgruppen sich endlich
öffentlich/dramatisch zum Anwalt der Betroffenen machen." (Benedict, ebd.) Diese Aussage macht deutlich, dass wir uns
dem Thema dieser Tagung auch anders nähern können. Also weg von einer reaktiven Problembearbeitung, hin zu
einer aktiven Problembenennung und -verhinderung!
Dienstleistungsangebot im Rahmen der sozialen Arbeit? Abgerufen, vermittelt, verordnet oder
"Wann rufen die Bretter von sich aus den Tischler an?"
|